Gerhard Glüher
“Bildkonzepte jenseits der Grenzen des Wahrscheinlichen”
Dieser kleine Einführungstext versucht, sich dem Phänomen des Bildlichen zu nähern, das mit den neuen Arbeiten von Gottfried Jäger und Karl Martin Holzhäuser hier und jetzt in seine Erscheinung tritt. Dabei handelt es sich – technisch gesehen – zunächst um eine Art Druckgrafik, um zweidimensionale Artefakte aus Papier, auf deren Oberfläche einseitig maschinell Farbe aufgetragen wurde. Mit dieser Kennzeichnung stehen die Arbeiten in einer jahrhundertealten Tradition ähnlicher Objekte. aber anders als jene älteren Verfahren entstehen sie nicht durch maschinelles drucken, sondern eher durch maschinelles Schreiben, nämlich durch das zeilenweise aufsprühen farbiger Tinten auf Papier. es sind digitale Grafiken, Digigraphien, wie sie ihr Hersteller EPSON nennt. Doch sieht man ihnen das auf den ersten Blick kaum an, denn die farblichen und grafischen formen verweisen in ihren Erscheinungsformen eher auf ein anderes Medium, als auf das eigene. Es scheinen Fotografien zu sein, aber es sind keine. die Fotografie als bilderzeugendes Verfahren ist eine ‘analoge’ chemische Reaktion auf ein physikalisches Lichtereignis. Fotos sind visuelle Entsprechungen dieses Geschehens, dem Prinzip des Mimetischen näher als der reflektierten Analyse darüber. Digitalgrafiken beruhen demgegenüber auf ‘digitalen’, zahlenbasierten elektrischen Impulsen eines Datensatzes aus einem Rechner, der wiederum ein generatives System aus numerischen Elementen, Modulen und Operationen voraussetzt, um überhaupt etwas Visualisierbares erzeugen zu können.
An dieser Stelle des künstlerischen Konzeptes berühren sich die neuen Arbeiten Jägers und Holzhäusers mit den anfänglichen aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, denn beide Künstler hatten sich bereits damals auf die Suche nach einer Systematik, einer Art von Grammatik der Visualisierung aller bildlichen Prozesse gemacht. auch damals schon waren sie Pioniere des radikalen Nachdenkens über die schöpferischen Möglichkeiten des Künstlers, der sich nicht mehr der Willkür des Geniegedankens unterwerfen wollte, sondern der die naturwissenschaftliche Methodologie des intersubjektiven Nachvollziehens der Prozesse auf die Bildproduktion zu übertragen versuchte. die Generative Fotografie, welche sich mit einer gleichnamigen Ausstellung 1968 in Bielefeld und einem Buch – es erschien 1975, Holzhäuser und Jäger waren seine Autoren wie Herausgeber –, bekannt machte, wird heute zwar als eine Richtung der Konkreten Kunst behandelt, doch m. e. ist das exakte wissenschaftliche Denken, welches die ‘Generativen’ trägt, wesentlich tiefgründiger und fundierter einzuschätzen, als zum Beispiel die malerischen Spielarten der Konkreten Kunst. Eben genau durch das nachhaltige und nachdrückliche Bemühen um eine bildnerische Syntax und Semiotik, welche sich durchgängig im inzwischen vierzigjährigen Werkverlauf von Holzhäuser und Jäger nachweisen lässt, gelingt es ihnen auch heute scheinbar mühelos, sich den neuen technischen wie apparativen Möglichkeiten und Herausforderungen zu stellen und beinahe übergangslos ihre Konzepte weiter zu entwickeln. Diese Arbeitsweise ist nicht nur multimedial, sondern geradezu transmedial zu nennen, denn das Konzept ist so stark, dass es über die Barrieren der Medien hinweg trägt. dieser transmedialen Arbeitsweise ist es auch gedankt, dass jetzt Bilder entstehen, die den traditionellen Fotografien ähnlich sind, ohne Fotografien zu sein. Es sind aber nach wie vor systemische, generative Bilder – in diesem Fall fotobasierte, rechnererzeugte Tintenstrahldrucke, Photo-based Computer-generated Inkjetprints, oder kurz: Computer Generated Images (CGi) – so nennt sie die Fachwelt heute –, und sie sind in der Tat etwas grundlegend anderes als die analogen Bilder, die wir von konventionellen Fotografien oder Fotogrammen her kennen. systemischen Bildern liegt die Eigenschaft zugrunde, dass sie berechenbar und in ihrem Entstehungsprozess und ihrem gestaltgebenden Weg nachvollziehbar sind.
Machen wir uns nichts vor: so augenscheinlich schön und formalästhetisch perfekt sie auch sein mögen, so tiefgründig und komplex sind ihr medientheoretisches Konzept und ihre philosophische Basis. bereits der Titel der Ausstellung Realer Schein könnte das Programm ihrer Genese sein. Der Begriff ‘Schein’ und sein Adjektiv ‘scheinbar’ sind doppeldeutig. sie haben nicht nur die Bedeutung des Hypothetischen, sondern auch die Konnotation zum ‘Scheinenden’, also dem Glänzenden, reflektierten, beleuchteten – und somit zum licht selbst. der Lichtschein ist wirklich in der Welt vorhanden, vom literarischen Schein kann man dies nicht gerade behaupten. der reale schein ist daher nur als Wahrnehmungsphänomen wahr, nämlich dann, wenn wir ihn als den schein, den Reflex des Lichtes interpretieren. Paradox ist die Wortkombination in dem Moment, in dem wir den Schein in seiner zweiten Wortbedeutung verstehen: als unwahrscheinliche Möglichkeit nämlich. Wenn die Realien tatsächlich die greifbaren Dinge in der Welt sind, dann ist ein realer Schein ein Widerspruch in sich selbst, denn was soll ich (be)greifen können, wenn das Ding selbst lediglich ein Hirngespinst, eine Fata Morgana ist?
Verlassen wir die Welt der banalen Realien jedoch, so erweitern sich die Grenzen, und die physischen Parameter heben sich auf. In einer Welt, in der nichts gewiss ist, können auch die Annahmen und Hypothesen so wahr sein wie die betastbaren Gegenstände. Wie gelangen wir aber in jene vorgestellten Welten, die aus Einbildungen und nicht mehr nur aus Abbildungen bestehen? Die Einfallstore und die Schlüssel hierzu sind die Tasten und die Schalter, welche gedrückt, umgelegt und von ‘entweder’ nach ‘oder’ positioniert werden müssen. Entweder ja oder nein, entweder Licht oder Dunkelheit, entweder rot oder grün. Hinter den Tasten stehen Prozesse und Codes, also numerische oder buchstäbliche Schlüssel, die nur auf den ersten Blick das bedeuten, als was sie erscheinen. Derjenige, welcher die Tasten drückt und die Hebel umlegt weiß, dass er mit einer winzigen Geste des Fingers komplette imaginierte Welten schaffen – oder auch wieder löschen kann.
Die analogen Bilder sind wahrscheinliche Artefakte aus der Welt, die digitalen Bilder sind unwahrscheinliche Hypothesen aus dem Denken. Die Schnittstelle, an der sich das unvereinbare vermischt, ist die Eigenschaft des Immateriellen, denn sowohl das Licht, als auch der Gedanke sind immateriell. erst dann, wenn sie in die Welt kommen, müssen sie durch geeignete Verfahren und Techniken materialisiert werden, um ihnen eine Gestalt zu geben, welche Objekt oder Zeichen sein kann. Ganz bewusst bezeichnet Gottfried Jäger seine Digigrafien des Jahres 2008 mit dem altmodischen Begriff ‘Photo’ und Karl Martin Holzhäuser setzt den vergleichbar konventionellen Ausdruck ‘Montagen’ ein, um einerseits noch eine Referenz an die Fotografie hervorzurufen, andererseits um eine Störstelle in den Betrachtungsvorgang einzubauen, die das Nachdenken über die vordergründig problemlose Erscheinung des Offensichtlichen anzuregen vermag.
Die in der Düsseldorfer Ausstellung gezeigten Arbeiten sind nicht nur eine Hommage an die Anfänge einer vierzigjährigen Künstlerfreundschaft, sondern auch ein wohlbedachter Schritt in eine Region der Bilderzeugung, die meines Erachtens schon immer wesentliches Ziel des Programms generativer Kunst war. damit meine ich nicht das Serielle und den Grundtenor des Gegenstandslosen, sondern den konsequenten Einsatz der Apparate, das Übersetzen der händischen Arbeit in einen präzise gesteuerten und wiederholbaren Ablauf und das Bemühen, die materiellen und sinnlichen Spuren des Niederschlags der künstlerischen Arbeit im Bild zum Verschwinden zu bringen. Hatte bereits 1922 der Bauhauslehrer László Moholy-Nagy behauptet, dass im Fotogramm das Licht die künstlerische Handarbeit ersetzt, so trifft das in Reinform auf die neuen arbeiten Jägers und Holzhäusers zu, denn ihre bildformen entstehen durch Rechenoperationen und durch betätigen von Tasten bzw. durch das Verschieben von Computermäusen auf Schreibtischplatten.
Diese Bilder erscheinen als Etwas, das sie nicht sind, sie spielen aber mit den Erscheinungsformen des zitierten Mediums, der Fotografie, und mit oft gesehenen Erinnerungsbildern, denen sie eine mächtige Präsenz verleihen. die rhetorische Figur, welche hinter den Arbeitsweisen beider Künstler steht, ist die Referenz oder der Verweis. Referenzielle Bilder sind jedoch nicht mehr nur sie selbst als visuelles Phänomen, sondern sie sind auch Zeichen, die für etwas stehen, auf das sie hinweisen, das ihnen gelegentlich sogar erst ihre Daseinsberechtigung gibt. Diese Digigrafien verweisen auf das Foto als ein archetypisches Artefakt, wie es bei Jäger und Holzhäuser vorkam, nicht aber auf die Abermillionen von Fotografien, welche wir täglich in Zeitschriften sehen. Die Zeitschriftenfotografie verweist auf die Lebenswelt, Jägers und Holzhäusers Fotografien verweisen auf die ureigensten Phänomene des fotografischen an sich: Licht und seine Erscheinungsformen als fotografisches Gebilde. die Inkjetdrucke sind Experimente und Beweise zugleich, mit denen die Künstler beinahe spielerisch ihre eigenen fotografischen Operationen und Verfahren daraufhin überprüft haben, ob noch mehr an Irritation und Analyse aus der Idee der Fotografie herauszuholen ist. Es ist ihnen tatsächlich gelungen, denn die gezeigten Werke sind perfekter als es jede Fotografie sein könnte, die versuchen würde, dies zu erreichen, was die Drucke erreichen können. die Arbeiten sind im wahrsten Sinne des Wortes makellos. Sie schweben in ihrer Unantastbarkeit wie Gespenster im Raum und sind bei der allerhöchsten physischen Präsenz doch nichts anderes als bildgewordene Ideen der puren Idee der Fotografie. Diese neue Bildform könnte ungemein gefährlich sein, wenn man sie in den Dienst der Manipulation oder der Bildlüge stellt. Die beiden Künstler sind indessen viel zu ernsthaft und zu ehrlich, um den Betrachter mit Taschenspielertricks blenden und täuschen zu wollen, denn sie übertreiben ganz bewusst die Perfektion. Mit anderen Worten: Diese neuen Werke Jägers und Holzhäusers sind zu schön, um wahr zu sein. Dem Blick des Betrachters stellt sich kein Hindernis mehr in den Weg, welches ein deutliches Indiz für eine Grenze und eine Oberfläche wäre. Kein Pinselstrich, kein Korn, kein Kratzer, keine Schlieren, keine Spuren sind mehr zu finden, die auf das Kunstobjekt als eines menschlich-handwerklichen Produktes hinweisen. Die Blicke gehen widerstandslos durch eine Oberfläche hindurch und treffen auf das imaginierte – sie registrieren also gar nicht mehr, dass sie sich gerade an einem Bild abarbeiten.
Doch worauf treffen die Blicke überhaupt? Geometrische Kompositionen aus Rohren und Bändern sind es bei Holzhäuser, bei Jäger sind es projizierte Lichtkegel auf monochromen Flächen. Wer frühere Werke der beiden Protagonisten kennt, dem begegnen bekannte Figuren und Themen. Schnell drängt sich der Eindruck auf, dass hier lediglich neue Variationen bekannter Werkgruppen entwickelt wurden. die Annahme entpuppt sich indes als Fehlschluss, der deutlich wird, wenn der wissende Blick genauer hinsieht. Solche makellosen Flächen, perfekt abgestuften Verläufe und surrealen Durchdringungen bzw. Überlagerungen wären unmöglich herstellbar, wenn die Künstler bei ihren bisherigen, analogen fotografischen Verfahren geblieben wären.
Angesichts der Elaboriertheit dieser Werke stellen sich abschließend zwingend die fragen, ob das Digitale mehr als das Analoge kann, und ob die beiden Künstler vielleicht einen unsicheren Weg gegangen sind, dessen Schlusspunkt diese Werke darstellen. Markieren sie das melancholische Ende eines analytischen Experimentierprozesses, den sie vor vierzig Jahren als Avantgardisten mit ihrer ‘Generativen Fotografie’ begannen? die fotochemischen Verfahren und die Arbeit mit dem lichtempfindlichen Papier ist damit sicherlich so gut wie beendet, nicht jedoch das Konzept der generativen Bilderzeugung. dessen theoretisch-methodisches Rüstzeug eröffnet meines Erachtens durch den Medienwechsel völlig neue, unwahrscheinliche Felder. sie schließen sowohl die nostalgisch-ironische Bildrhetorik auf die ‘alte’ Fotografie, als auch das bildnerische Denken als pures Konzept in sich ein. Damit treten auch die beiden Pole der konkreten Kunst erneut hervor, Spiel und Kalkül. Aber nicht als Gegensatz. sondern das Spiel als emotionale Variante des Kalküls. Über die Rolle des Zufalls dagegen lässt sich heute lediglich spekulieren. Doch wer weiß schon, wohin Holzhäuser und Jäger ihre Programme und Maschinen noch treiben?
Oktober 2008